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Es gibt viele Fragen, die eine Sängerin wie NESS bei Außenstehenden aufwerfen kann: Wie kann man mit frischen 18 Jahren schon so erwachsen und selbstsicher sein? Woher schöpft sie die Inspiration für ihre Musik, die so umwerfend persönlich ist, dass es einem unweigerlich Gänsehaut über die Arme und Klöse in den Hals jagen kann. War ihr ihr gesangliches und textliches Talent schon immer bewusst oder musste der Glaube an sich selbst erst bei ihr entfesselt werden? Das wären zum Beispiel solche Fragen. Eine Frage, die sich bei NESS aber nie stellt, wenn man mit ihr spricht oder ihre Musik hört, ist: Mit wem haben wir es gerade zu tun, NESS oder Vanessa? Denn NESS ist durch und durch sie selbst. Es gibt keine Kunstfigur. NESS ist Vanessa und Vanessa ist NESS, 100 Prozent Authentizität, keine Spielchen, keine Fassade. Aber auf alle anderen Fragen hat sie eine Antwort parat.
Aufgewachsen im kleinen österreichischen Städtchen Traiskirchen hatte NESS ihre erste musikalische Erleuchtung mit etwa sechs Jahren, als ein Freund der Familie mit einer Gitarre aufkreuzte und Vanessa, die sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht vieler Dinge sicher war, in diesem Moment eine wichtige Entscheidung traf: Das will ich auch! Und so lernte sie Gitarrespielen und schrieb ihre ersten Songs, in denen sie ihre Probleme und Themen, die sie damals beschäftigen, verarbeitete. Das hat sie sich auch bis heute beibehalten. Zwar singt sie jetzt nicht mehr über Hausarrest und Schulalltag, sondern über ihre persönlichen Erfahrungen mit Mental Health Problemen, Bodyimage und gesellschaftliche Normen. Aber im Grunde blieb sie damals wie heute sich treu und nutzte die Musik als Ventil, ihre eigenen Gedanken zu ordnen und das Chaos in sich selbst ein bisschen zu zähmen.
Ein Chaos, das ganz normal ist im Inneren eines Teenagers. Dennoch wirkt NESS tatsächlich erstaunlich erwachsen, selbstreflektiert und weise für eine Person ihres Alters. Woran das wohl liegt? „Ich habe früh das Kind in mir verloren, ohne dass es einen konkreten Grund dafür gäbe“, erklärt sie sich selbst ihre seelische Tiefe. „Ich war immer der Mediator, die Mehrfachsteckdose der Familie. Alle teilen schon immer ihre Probleme mit mir.“ Vielleicht liegt das an NESS’ Ehrlichkeit, die ihre Musik auch so besonders macht. Denn auch sie hat keine Scheu davor, ihre Struggles offen zu thematisieren. Im Gegenteil. „Ich will über Dinge sprechen, über die man ungern spricht und meine eigenen Kämpfe verarbeiten.“
Dazu gehört auch, dass NESS offen als queere Person auftritt und ein Vorbild und Identifikationsfigur für andere queere Kids sein möchte. Ein Vorbild, das sie in ihrer eigenen Kindheit schmerzlich vermisste. Da waren zwar Leute wie Miley Cyrus, die ein musikalisches Vorbild war und Billie Eilish, die mit ihrem androgynen Klamottenstil zu einer Lichtgestalt für NESS wurde, die selbst an ihrer Schule das einzige Mädchen war, das nicht geschlechterkonform im Kleid und Schleifchen im Haar auftrat und dafür nicht immer akzeptiert wurde. Aber richtige queer Kids gab es nicht. Jetzt schon. Und da ist es NESS auch egal, ob sie in eine Schublade gesteckt werden könnte. „Natürlich habe ich keine Lust, nur auf meine Queerness reduziert zu werden. Aber ich finde Repräsentation so wichtig. Und deswegen werde ich meine persönliche Geschichte immer zum Thema machen.“
Klar, dass ihre Musik also so gut wie immer sehr persönlich daherkommt. Songs wie „Schattenfreunde“, in dem sie ihre eigene Angststörung thematisiert, „Barbie“, in dem sie Geschlechtszuordnungen und Schubladendenken kritisiert oder „Deine Richtung“, in dem sie eine dysfunktionale Beziehung verarbeitet, sind ein Zeugnis dafür. Aber wie kam NESS eigentlich dazu, aus einem Hobby ihren Beruf zu machen?
Einen richtigen Plan B hatte NESS nie so wirklich. Am Schulsystem begann sie mit den Jahren zu scheitern. Zu individualistisch, zu zweiflerisch war sie. Wozu soll ich Dinge lernen, die mich gar nicht interessieren? Die Pandemie inklusive Homeschooling versenkte dann den letzten Nagel im Sarg von NESS’ Schulkarriere und sie brach nach der 10. Klasse ab. Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Direkt die große Gesangskarriere starten? Dafür war sie damals mit 16 Jahren noch viel zu schüchtern. „Ich hab mich nicht mal getraut vor meiner Oma zu singen. Mir war das total unangenehm.“ Aber die Oma hörte heimlich zu, nahm die Sache in die Hand und meldete NESS bei der österreichischen Castingsendung „Starmania“ an.
Ziemlich krasser Step für jemanden, der nicht mal vor der Oma singen will, genau das plötzlich vor tausenden Zuschauern im Fernseher zu machen. „Das hat keiner verstanden damals. Ich auch nicht“, sagt sie heute lachend darüber. Aber das Gefühl, auf der Bühne ihr inneres Kind rauszulassen, das sie schon so früh weggesperrt hatte, machte schnell süchtig und gab ihr Selbstbewusstsein. Sie wurde schließlich auch Drittplatzierte, ein gigantischer Erfolg und Egoboost! „Das hat mir so richtig gezeigt, wenn das dein Traum ist, dann verfolg ihn einfach.“ Und das tat sie. Sie fand ein Management, ein Label und begann ihre ersten richtigen eigenen Songs zu schreiben. Ihre erste EP namens „Untypisch“ entstand und im Sommer 2022 ging sie sogar schon als Vorgruppe auf ihre erste Tour. Eine unglaubliche Erfahrung für die 17-Jährige, die sie auch zu Beginn erstmal leicht überforderte. Aber wie alle anderen Ängste hat NESS auch diese zu ihren Schattenfreunden gemacht und ist am Ende als Siegerin aus der Schlacht zurückgekehrt. Eine Schlacht, die NESS zwar nicht leicht aussehen lassen oder runterspielen will, aber zeigen will, dass es machbar ist und vor allem OK, auch mal zu strugglen.
Und vielleicht ist es das, was NESS zu so einer herausragenden Popsängerin macht. Denn normalerweise wirkt im Pop alles immer leicht, süß und kratzt eher an der Oberfläche. Das macht NESS nicht. Und diese Ehrlichkeit ist und klingt so erfrischend, wie es selten in der aktuellen Musikindustrie zu finden ist.